STATEMENT Der ungarische Roman KARNEVAL von Bèla Hamvas (sprich: Hamwasch) muss endlich übersetzt werden! Es ist nicht hinzunehmen, dass dem deutschsprachigen Lesepublikum die Orientierung im Jenseits kollektiv verwehrt bleibt. Vom Diesseits ganz zu schweigen.                                       Die Übersetzer

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Zur Unterstützung der Herausgabe lesen aus  KARNEVAL

Die Verdoppelung Jürgen Flimm     In der Patsche Klaus Zehelein   Das tote Kind Hans Kremer &  Martina Schiesser RI Claus Huebner  Miedersache Harald Maack, Felix Grassmann,  Melanie    Kretschmann, Martina   Schiesser  Gesichter  Gabor  Altorjay

1933 Entwurf der ersten Fassung. Hamvas: “Diesen Roman werde ich              mit Fünfzig schreiben!”

1950 bis 53 verfasst Hamvas handschriftlich den 1500 seitigen Roman.                     Das Manuskript kursiert 30 Jahre lang auf Schreibmaschinen verviel-              fertigt in Ungarn

1968 stirbt Hamvas

1985 erscheint das Buch in Budapest. Die 10 Tausend Exemplare sind                  in wenigen Tagen vergriffen

1997 Die zweite Ausgabe in 30.000 Exemplaren erscheint.                               Im März wird Bela Hamvas zum meistgelesenen Autor in Ungarn

Eva Haldiman

 

KINDLERS NEUES LITERATUR LEXIKON BAND 21. SEITE 538-539

KARNEVAL

(ung.; Karnevàl). Roman des Kulturhistorikers und Philosophen Bela HAMVAS, entstanden 1948 bis 1950, aus dem Nachlaß veröffentlicht 1985.

Schauplatz dieses philosophischen Monumentalromans, einer »metaphysischen Pikareske« (E. Haldimann) in sieben Büchern, vom Autor selbst als Schicksals- oder auch als Fehlbarkeitskatalog, als Dämonologie oder, HERAKLIT zitierend, als ,,Geschichte des zehntausendhäutigen Geistes" charakterisiert, ist der Karneval, eine universale Metapher fur die unendlichen Metamorphosen des Menschen in seiner metaphysischen und historischen Existenz. »Hamvas' Thema ist, losgelöst von nationalen und aktuellen Belangen, die Krise der universellen Zivilisation, der moralische Verfall des modernen Menschen« ~. Haldimann).

Hauptgestalt des Buches ist Michael Bormester, der Sohn des Hilfsreferenten Virgil Bormester (dt. »Weinmeister«), der sich auf den Weg macht, seinen wahren Namen, seine Identität zu suchen. Der Erzengel Michael spricht ihn an, aber Virgil ist in unglückliche Abenteuer verstrickt und zur Identifikation nicht imstande, deshalb gibt er sowohl das Suchen, als auch den Namen Michael seinem Sohn weiter. Der Name Michael ist Mittelpunkt der gesamten Erzählung - und ihn kontrapunktieren die Maskennamen der 300 auftretenden Personen, in denen Michael sich selbst erkennen muß. Der Karneval ist Karneval, damit niemand seinen Platz behält, und so wird der Neugeborene  in der  Wiege  vertauscht. Dem  schizophrenen  Jahrhundert entsprechend, leben die beiden vertauschten Kinder das Leben des jeweils anderen, was heißt, daß der einzige Michael zu zwei Personen wird.

Der anfangs auf die Kleinstadt beschränkte Familienroman weitet sich  in einem von mehreren konzentrischen Kreisen  auf das Land und schließlich auf die fünf Kontinente aus. Und ebenso die Zeit, denn »was hier geschieht, gilt für alle Zeiten«.

Das Romangeflecht umgreift die Ereignisse der vermeintlich realen Welt von der Jahrhundertwende bis 1950 und wird damit der sichtbaren, realen Geschichte gerecht, aber über ihr steht der esoterische Sinn, der Hüter der »wundersamen Veränderungen der Seele«. Beide sind verbunden durch das Funktionsgespräch zwischen dem Erzähler und dem »agent spirituel«; die Authentizität gewährleistet die unanfechtbare »Stimme«.

Bei der Mobilisierung soll Mike, der extravertierte Clown und Gentleman, an die Westfront geschickt werden- aber schalkhafter als Eulenspiegel und Panurge (der Schelm aus Rabelais' Gargantua-Roman) und obendrein mit der Luzidität eines Strategen gesegnet - setzt er sich über den törichten und grausamen Machtapparat des Diesseits hinweg. Seine Ironie drängt mit den sprachlichen Purzelbäumen eines James Joyce auch noch zwei Nachbarländer in einen Krieg, ohne daß er auf der »Gegenseite« Michail wahrnimmt, den »Heiligen«, sein introvertiertes Ich, das vom östlichen Kriegsschauplatz kommend in russische Gefangenschaft geriet, die Taiga durchlitt, in Tibet die östliche Weisheit erlebte, China durchreiste und auf der Insel Sansibar an Land ging, wo Mike und Michail aus der westlichen und östlichen Hemisphäre zusammentreffen, also Michael Bormester seinem Selbst begegnet. Es zeigt sich, daß der Heilige und der Clown nicht nur zusammengehören, sondern auch austauschbar sind.

Die »Vereinigung« im Tempel der Kali auf Sansibar wäre nicht zustande gekommen ohne Antennis, eine dritte Person. Der Anima-Spiegel des Michael Bormester ist der »älteste«, von der Zeitmaske unverhüllte; der strahlende Engel des Blendwerks lacht den aus, der die Masken für Wirklichkeit hielt. Mike und Michail, der leidenschaftliche Lachende und der spirituelle Leidende, erkennen in den Masken das Blendwerk der Welt. Kali, die Erdgöttin, ist das Blendwerk selbst, und in Antennis, dem strahlenden Engel, erkennt sie sämtliche Frauen, mit denen sie bisher rang.

Die letzte Station der Wanderjahre Bormesters und der Reifung der Seele steht noch aus. Der Abstieg ins Jenseits gestaltet sich zum Höhepunkt des Romans und ist eine einzige Katabolie der Literatur des 20.Jh.s. Sein erster Führer ist Henoch, der »Jünger des Herm«, der den Erlöser als erster sah. Er begleitet ihn bis zum mystischen Todesfluß, in dem statt Wasser Massen von sich plagenden Seelen in die Ferne streben. Die Landschaft wird hell, auf dem Gipfel des Perlenbergs ist ein reglos strahlendes Gesicht zu sehen: Johannes der Täufer. Auf der höchsten Bergspitze erscheint erneut Antennis, eine Bettlerin, die die Schwelle hütet. Ihre Schönheit symbolisiert die Reinheit von Michaels Leben, ihre Lumpen und ihr Alter sind Zeichen für den Schmutz dieses Lebens. Hinter dem Edelsteintor quälen sich die für die Wahrheit Leidenden, die Friedliebenden, die Reinherzigen, die Aussätzigen, in gleißendem Licht die Bettler im Geist. Hier verharren sie bis zum Tag des Herrn, denn vor dem Jüngsten Gericht gibt es kein Heil und keine Verdammnis, bis dahin sind sie nur Wartende und ist der Himmel nur eine Vision.

Weihnachten 1944. Michael hat seine Wanderjahre hinter sich, die Belagerung von Budapest verbringt er in einem Luftschutzkeller. Wieder ein Panoptikum, wieder ein Labyrinth, ein Karneval der Monomanien. Diesmal allerdings betrachtet der heimgekehrte Wanderer die comédie humaine nicht so unerbittlich satirisch wie in den vorangegangenen Kapiteln, sondern mit sanftem Humor. Der Humor ist die letzte Maske, sie kann bis zum letzten Augenblick nicht abgenommen werden. Doch die in bitterem Saft rotierende, unerlöste Welt bleibt zurück, und das motiviert das letzte Kapitel, das als ein Epilog zu sehen ist. Mit dem Bibliothekar Vidal tritt dem Anschein nach eine neue Person auf Der Erzähler spricht nicht aus, daß er eine neue Inkarnation des Michael Bormester wäre, laßt jedoch auch keinen Zweifel aufkommen, daß er zu den Geläuterten gehört, die auf das Heil im Jenseits verzichten, umkehren und sich in den großen Lebensfluß werfen, um wenigstens eine Seele zu retten. Denn »einmal im Leben erscheint der Engel jedem«.

 Katalin Kemèny

Fatum libelli von  Antal Dul   Nachwort zur 2. Ausgabe

Den Begriff des Initiations-Romans suchen wir vergeblich im Handbuch der Literaturwissenschaft. Diesen terminus technicus hat Bela Hamvas mit Karneval ins Leben gerufen.

Geistige Initiation - das heißt, es geht hier um Bewusstseinsbildung und die sieben Bücher des Romans sind die sieben Stufen der schrittweisen Anhebung des Niveaus.

Das 1.Buch ist die Schwelle. Wer kommt über die Schwelle? Derjenige, der mit dem Mythos des Höhergestelltseins abgerechnet hat und sich darüber im Klaren ist, dass “wir alle in der Patsche sitzen.”

Nur kein Pathos, kein Weihrauch, wenn ich ausspreche: Ich - sagt Hamvas. Erst dann ist es möglich, die Schwelle zu betreten und im maskierten Strudel des Lebens die eigenen Masken zu erkennen:  Ich bin jede Maske! Und die Häutung der Masken ist  eine ziemlich schmerzhafte Angelegenheit. Dieser Mensch verfügt über ausreichend Geduld und nicht weniger gesunden Humor, um bei der Durchführung der Operation nie seine Geistesgegenwart zu verlieren .

Der heraklitische Schlüsselsatz zu dieser verschlungenen und beim ersten Lesen kaum überschaubaren Ereignisreihe ist:  Ich begann mich zu suchen. Die Hilfe ist der Engel, weil den Ich-Suchenden immer ein Seelenführer erscheint . “Der Engel erscheint jedem mindestens einmal im Leben” , lesen wir im ersten Buch. Er ist nur wegen uns da und wir verstehen kein Wort.

Das 2. Buch ist die Metamorphose. Das samsarische Zyklus wendet sich um hundertachzig Grad. Schwarz und Weiss tauschen die Plätze, jeder legt eine neue Maske an und “niemand ist mehr der Alte”.   Während der real-irreale Geschichtsfaden in Regenbogenfarben weiterläuft, wird auch der die Schwelle übertretende Held, Mischichen geboren und wird, getreu den alkimistischen Regeln des 2. Buches, schon im Eröffnungsbild seines Lebens, im Kreisssaal nämlich, mit einem anderen Neugeborenen vertauscht. Das Durcheinander erscheint hoffnungslos und endgültig unlösbar, die Welt steht eben auf dem Kopf und an diesem Punkt müssen die weniger entschlossenen Lesern sich eingestehen: ich kann nicht mehr.

Das 3. Buch: die Vertiefung. Das alkimistische Descensio. Mischichen jetzt in der Maske des Retters. Er heiratet, zeugt Kinder und nachdem er alle faulenden, wankenden Stufen des Krieges und des familiären Purgatoriums erklommen hatte, erreicht er die Schwelle des Todes vom kleinen Ich: seine Larven (Schicksalrollen) fransen sich aus.  “Austrocknen der Seele” nennen es die Mystiker.

Im 4. Buch wird  “in zwei gerissen” und “ gegenübergestellt”. Das ist die separatio und multiplicatio, die Operation der Absonderung und der Vervielfältigung. Metaphysische Bewusstseinsspaltung. Hamvas’ Held, Mihaly Bormester knetet aus seinen Charakter-Komponenten zwei Wesen: Mike und Michail - den Jongleur der  entwickelten Lebenstechnik   mit blendendem Humor und den leidenden, nach Reinigung durstenden Moralisten. Während das vierte Buch das Buch der Inbesitznahme der irdischen Gefilde ist, gehört das 5. Buch der Zeit. Nach reductio und fixatio - Zurückführung und Vereinigung - kehrt Bormester zur Karma-Krise des dritten Bandes (zum Hauptfaden der Geschichte) zurück und begeht die schlimmste Sünde, die ein Mensch begehen kann: er tötet. Etwas milder ausgedrückt: im Laufe eines Familienstreits erwürgt er seine Frau.

Ein durch Schuld weich gewordener Mann!  - spricht ihn sein Seelenführer an, Meister Mark, der den ihm anvertrauten Schüler nun für reif genug hält, um ihn durch die tausende Jahre lange Kette der Inkarnationen in die Vergangenheit zu führen. Anschliessend durchschreiten nochmals hunderte und aber hunderte Figuren die Bühne, die Magie der Namen scheint unerschöpflich und es geschieht alles mit jedem jetzt. Fasziniert und gefesselt von ihren Schicksalsrollen wünschen die Masken kein Erwachen.

Da bleibt nur noch die metaphysische Dimension. Dieses Kapitel charakterisiert Katalin Kemeny in ihrer Monografie über Karneval so: das ist anabasis und katabasis - ein gewagtes alkemisches Abenteuer von Himmel- und Höllenfahrt, eine Gegend, in die sich die europäische Literatur seit Dante kaum wagt. Das ist die volatilisatio: die Seele vom Himmel und von der Unterwelt beflügelt. Die anfängliche Frage: “Wer bin ich?” - kann jetzt klarer beantwortet werden. Die Natur der Seele ist das Feuer. Meister Mihaly kennt jetzt seinen nächsten (aber nicht letzten!) Namen: das Feuerkind mit zehntausend Häuten.

Das 6. Buch steht im Zeichen von calcinatio und coagulatio. Das ist der Moment des Ausbrennens und der Schaffung der festen und endgültigen Lage. Der Rückkehr zur Wirklichkeit. Aber was ist die Wirklichkeit? Die Wirklichkeit ist 1945 und die Schlacht um Budapest. Bormesters Schicksalsdrama endet hier, im Luftschutzbunker.

Das 7. Buch: über einen neuen Lebenskreis kehrt der Beginn wieder. Das ist die sublimatio. Neue Larven und neue Masken werden geboren, aber ein Mann namens Vidal tritt auf. Sein Name bedeutet: der sieht. Der die Masken abnehmen kann. Chaos bleibt Chaos, er kann die Ordnung auch nicht herstellen, aber er sieht den Pfad der herausführt.

Die erste Fassung vom Karneval entwarf Hamvas mit einunddreissig Jahren, doch er war mit dem Ergebnis unzufrieden.  “Diesen Roman werde ich mit fünfzig schreiben!” sagte er jahrelang. Und tatsächlich:  als er 1948 mit 51 Jahren auf die Schwarze Liste kam, zwangspensioniert, von jeder Möglichkeit der Publikation ausgeschlossen, war seine Lage ausgesprochen ideal, um den Schicksals-Katalog von den wundersamen Verwandlungen der Seele  auf 1200 Seiten zu erstellen. Die erste abgetippte Abschrift des Romans versteckte er sorgfältig im Bettkasten unter der Wäsche.  Das Schicksal des Romans nach seinem Tod 1968 erwies sich als  eine kongeniale Fortsetzung dieser ganzen farbigen, karnevalistischen (Selbsterkenntnis-) Komödie. Er  verbreitete sich als Samisdat im intellektuellen Untergrund Ungarns. Da es sich dabei um ein überwältigendes Blätter-Volumen handelte, bekam kaum jemand das Ganze zu Gesicht. Das Buch wurde in Teilen, auch zusammenhangslos, weitergereicht;  jeder fertigte Kopien an und gab sie weiter. So entstand ein Mythos von einem Roman, den kaum einer ganz gelesen hat, aber von dem sich viele angesprochen fühlten. Drei Jahrzehnte später, 1985 wurde das Buch von einem Politfunktionär, der aufgrund seiner Stellung wohl der einzige war, der eine Herausgabe verantworten konnte,  zum Verlag  gebracht. Er liess eine unerhebliche Passage über den Arbeitswettbewerb weiblicher Henker streichen und hatte damit der Zensur genüge getan.

Nach seinem Erscheinen war die Auflage von zehntausend Exemplaren  nach einigen Tagen vergriffen. Doch anscheinend sind nur Wenige im der Lage,  dieses Buch, das auch Hamvas als sein Hauptwerk ansah, tatsächlich zu lesen. Es gelang ihm dafür zu sorgen, dass die Schwellen der ersten Bücher nur von den Entschlossensten übertreten werden können. Die persönliche Erfahrung des Verfassers dieser Zeilen hat gezeigt, dass es von grossem Vorteil ist, wenn man es sich leisten kann, das Buch gleich zweimal hintereinander zu lesen. Auf diese Weise lernt man zunächst die hasarde, mit Tragödien und Humor durchsetzte Welt der Schicksalsgestalten kennen. Beim  zweitenmal  aber erkennt man die unter dem Gewebe der Geschichte verborgene Welt der alles durchdringenden Ordnung und des Sinns. (Bormesters Bemerkung zu weiteren Möglichkeiten: das Buch gar nicht zu lesen, dreimal lesen, hineinzublättern. Zum letzteren fügt er hinzu :  Irritation maximum).

Initiations-Roman? Vielleicht bedeutet es nur so viel: wir sehen, wie der Strudel von anank (der Schicksalszwang) mit uns stürzt, rast und sich dreht - aber die Achse bewegt sich nicht.

Ein halbes Jahrhundert trennt uns von der Zeit der Entstehung des Romans. Eben der Zeitraum, den Hamvas “kleine Ewigkeit” nennt, da auch anspruchvollere geistige Werke dieses Alter nur selten überleben. Die Welt hier in Ost-Europa hat sich erdrutschartig verändert (getreu den Regeln des Drehbuchs im zweiten Buch), dem Karneval kann diese Verschiebung der Konstellation nichts mehr anhaben. Wie jedes Meisterwerk wurzelt es in der Tiefe des Zeitlosen. Seine Frische, seine erweckende Kraft wird von der vergehenden Zeit eher gestärkt denn geschwächt.